Sieben Uhr früh am Polarkreis. Eisiger Wind weht über die Haut. Nasen, rot von der Kälte, tropfen. Heißer Atem verdampft. Schichtbeginn auf Skandinaviens kältester Baustelle.

Giovanna Martinez, 27, Italienerin, stapft durch den Schnee. Seit vier Wochen schuftet die Studentin jeden Tag bei bis zu minus 40 Grad. Gute Laune hat sie trotzdem, denn gleich schwingt sie die Motorsäge. „Das ist mein liebstes Werkzeug. Wenn du damit umgehen kannst, gibt dir das ein Gefühl von Stärke. Das ist toll“, sagt sie und grinst.

Die Studentin Giovanna Martinez, 27, steht mit ihrer Motorsäge auf der Baustelle „Ice Hotel“. Seit vier Wochen arbeitet sie hier jeden Tag bei bis zu minus 40 Grad.
Giovanna Martinez mit ihrem liebsten Werkzeug – der Motorsäge.

Das Licht ihrer Stirnlampe tanzt über eine Wand aus Schnee. Sie bildet den Rohbau des Eishotels im Norden Schwedens. Giovanna will einen Zugang hineinsägen. Gerüste werden aufgebaut, Stehlampen angeschaltet, Stromkabel verlegt. Sie zieht die Schutzbrille auf und den Hörschutz über die Ohren, atmet ein, atmet aus, drückt den Startknopf der elektrischen Motorsäge – und legt los.

Giovanna Martinez

Schnee und Eis splittern durch die Luft. Das Material ist eigensinnig. Die Arbeit hart. Und die Zeit – wie immer – knapp. Es geht heiß her, beim Bau des kältesten Hotels der Welt.

Erleuchteter Eingang des „Ice Hotel“ in Jukkasjärvi, einem 900 Seelen Dorf in Schwedisch Lappland.
Dahinter liegt eine eigene Welt: Eingang des „Ice Hotel“ in Jukkasjärvi, Lappland.

Wir sind in Jukkasjärvi, einem 900-Seelen-Dorf in Schwedisch Lappland. Hier entsteht jeden Dezember ein einzigartiges Bauwerk: das größte Schnee- und Eisgebäude der Welt. Es hat immer 24 Zimmer, 12 Suiten, eine Bar, eine Empfangshalle und einen Zeremoniensaal verziert mit prächtigen Eisskulpturen. Jedes Jahr bewerben sich Künstler, von denen 15 ausgewählt werden, die die Räume einrichten dürfen.

Erfunden hat das Projekt der Unternehmer Yngve Bergqvist vor 31 Jahren. Nach einer Japanreise lud der Wintersport-Fan traditionelle japanische Eisschnitzer in seine Heimat ein. Die zeigten ihm, wie man Eisskulpturen baut. So entstand erst eine Kunstgalerie, dann ein Iglu und in den folgenden Jahren das „Ice Hotel“, das immer größer und verrückter wurde.


Die Empfangshalle des „Ice Hotel“, Räume aus durchsichtigem Eis. Das Hotel hat immer nur von Dezember bis April geöffnet (neben dem ganzjährigen „Ice Hotel 265“).
Schillernd: die Empfangshalle des „Ice Hotel“.

Heute besteht die 2000 Quadratmeter große Unterkunft aus 30.000 Kubikmetern gefrorenem Wasser. Eine Eisdiele könnte damit umgerechnet 110 Millionen Kugeln Eis servieren. Die Unterkunft wird in nur einem Monat fertiggestellt. Eröffnung ist kurz vor Weihnachten. Letzter Check-out ist im April. Danach schmilzt der gigantische Bau in der Frühlingssonne.

Das Besondere am „Ice Hotel“ ist aber nicht allein das Schlafen in der Kälte und Stille. Es ist das Hotel selbst, das jedes Jahr neu gebaut und eingerichtet wird: eine Leistungsschau der Eisschnitzer, eine entrückte Welt. Sie zu erschaffen ist für Giovanna und die übrigen 60 Arbeiter, Künstler und Lichtdesigner in diesem Jahr allerdings besonders schwer.

„Leider ist das Wetter unberechenbar – mal taut es, dann gefriert es wieder, gestern hatten wir sogar Regen“, sagt Giovanna. Nach dem Sägen säubert sie nun die Kanten mit einem Meißel und schmirgelt sie mit einem Schaber glatt. Dann blickt sie zur Decke in vier Meter Höhe – und wirkt plötzlich besorgt.

Langer Gang im „Ice Hotel“. Beim Bau des „Ice Hotel“ 2020/2021 war es immer wieder zu warm. Die Folge: Schmelzschäden.
Schwierige Bedingungen im Winter 2020/2021: Beim Bau war es immer wieder zu warm.

Der Schnee wirkt dort dunkler, fast grau. Kein gutes Zeichen. In den vergangenen Tagen lagen die Temperaturen bei vier Grad plus. Zu warm. Der Schnee wurde zu Wasser. Dann stürzte die Temperatur plötzlich auf minus 15 Grad ab. Das führte zu Vereisung, Löcher rissen auf, und die müssen nun dringend gestopft werden. Optimale Arbeitsbedingungen wären konstant minus zehn Grad. Doch das ist selten geworden. Das Wetter wird – wie überall – extremer.

„Wir sind der Natur ausgeliefert. Wir können nur wenig kontrollieren – aber gerade das macht den Reiz aus, wenn man mit Eis arbeitet“, sagt Giovanna. Durch einen Aushilfsjob auf einem schwedischen Bauernhof lernte sie Schnee als Baumaterial kennen. „Die Arbeit am Eishotel ist wie eine Auszeit vom Alltag für mich. Anstrengend, aber auch entspannend“, sagt die Politikstudentin.

Dann erscheint Luca Roncoroni, 47, ebenfalls Italiener, er lebt und arbeitet in Norwegen als Architekt. Er ist der Creative Director des Eishotels. Mit einer Plastikplane hat er das Dach abgedeckt, um es vor warmen Winden zu schützen. Nun steigt er auf ein Gerüst und begutachtet die Schmelzschäden. Er winkt Mitarbeiter heran, die Schnee in die Löcher schaufeln. „Jetzt müssen wir hoffen, dass die Nacht kalt wird und alles gut verklebt“, sagt Luca.

Boss vor der Baustelle: Luca Roncoroni, 47, Architekt, ist der Creative Director des Eishotels. Erkennbar an der orangefarbenen Jacke.
Herr der Baustelle: Architekt Luca Roncoroni, 47, Italiener, ist der Creative Director des Eishotels.

Auf ausreichend Schneefall muss das Team sich nicht verlassen. Material gibt es genug. In einer Lagerhalle neben dem Hotel stapeln sich zweimal ein Meter große Eisblöcke wie gigantische Eiswürfel. In diesem teilweise mit Solarenergie betriebenen Mega-Kühlschrank lagert sämtliches Baumaterial. Es stammt aus der Natur, genauer: aus dem 200 Kilometer langen Fluss Torne nebenan.

Luca Roncoroni

Beim „Eisernten“ werden jeden März mit speziellen Sägen rechteckige Eisblöcke aus dem gefrorenen Strom gefräst. Mit Baukränen, Baggern und Gabelstaplern werden insgesamt rund 3000 Tonnen Eis geerntet und danach acht Monate eingelagert. Anschließend werden die zwei Tonnen schweren Blöcke wie Backsteine zu Wänden gestapelt und mit Wasser vergipst.

Lagerhalle mit „Steinen“ der „Eisernte“. Im März werden rechteckige Eisblöcke aus dem gefrorenen Fluss Torne gefräst, die im Dezember verbaut werden.
Lagerhalle: Beim „Eisernten“ werden Blöcke aus dem gefrohrenen Fluss Torne gefräst.

Luca führt durch das Hotel. Die hohen Korridore, gestützt von gläsern wirkenden Eissäulen, wirken wie Tunnel in einem Labyrinth. Unter jedem Schritt knarzt Frost. Dann plötzlich ein Dampfbad. Nein, natürlich ist es kein echtes.

Was für ein irrer Anblick: Handtuchrollen, Bademäntel, Wasserhähne, Spiegel und Badewannen – alles aus Eis geformt. Jede Kante, jedes Detail ist bis auf den Zentimeter genau geschnitzt und geschliffen. Der hellblau schimmernde Lichtstrahler gibt dem Raum eine magische Aura. Luca scherzt: „Jedes Hotel braucht ein Spa. Doch ein heißes Bad kann man hier leider nicht nehmen.“ Rund 120 Arbeitsstunden hat Luca an dem Raum gearbeitet. Seine Werkzeuge: zwei Kettensägen und acht traditionelle japanische Eismeißel, mit Holzgriffen und unterschiedlichen Klingen. „Eis ist ein verdammt schwieriges Material“, sagt Luca, „denn es spiegelt die Temperatur wider.“ Liegt sie über dem Gefrierpunkt, kleben Eissäulen oder Wände nicht zusammen. Ist es kälter als minus 20 Grad, wird es spröde und bricht. „Du musst sehr effektiv arbeiten. Und präzise.“

Das weiß auch Linda Vagnelind, 45. Sie ist eine von 15 weiteren Künstlerinnen, die im „Ice Hotel“ die individuellen Zimmer gestalten. Ihr Hobby: Eisschwimmen. Im Winter taucht sie im Badeanzug zwischen Eisschollen durch die schwedischen Seen. Kälte ist sie also gewohnt. Und Winterschwimmen hat sie auch zu ihrem Kunstwerk inspiriert. Die Kälte vergleicht sie mit einem Ungeheuer, das in alle Glieder beißt. Doch habe man sich an sie gewöhnt, werde sie zum schützenden Freund, die Kraft gebe, erklärt die Künstlerin.

Linda Vagnelind

Aus zehn Tonnen Eis und Schnee hat Linda für das „Ice Hotel“ 2020/2021 die Suite „Guardian“ gestaltet. Ein mächtiger Tigerkopf mit T-Rex-Zähnen, der aus dem Boden auftaucht. Auf und neben der Skulptur knien Frauenfiguren. Dahinter ist das mit Fellen geschmückte Bett. Knapp zwei Wochen arbeitet sie schon an Zimmer und Skulptur – nun ist sie fast fertig.

Künstlerin Linda Vagnelind, links, mit Kollegin Ida Collins, ist eigentlich Malerin. Sie hat die „Guardian Suite“ im „Ice Hotel“ entworfen und gestaltet.
Eiskünstlerin Linda Vagnelind (links) ist eigentlich Malerin.

„Eigentlich bin ich Malerin. Aber mit dickflüssigen Farben und groben Pinseln zu arbeiten und Skulpturen aus Eis schnitzen – das ist ähnlich. Man braucht viel Übung“, sagt Linda. Besonders lange hat sie an den Zähnen der Figur gefeilt: „Da muss man ganz genau arbeiten, die Spitzen können schnell abbrechen.“

Viel Arbeit für ein Werk, das nicht für die Ewigkeit bestimmt ist, sondern nur für eine Jahreszeit. Doch traurig macht sie die Vergänglichkeit der Eiskunstwerke nicht. Im Gegenteil: „Es ist schön, wie die Details verschwinden, wie alles langsam taut und wegtropft. Auch das ist Teil des Kunstwerks“, sagt Linda. Luca meint: „Wir leihen uns von der Natur das Material, und irgendwann holt sie es sich zurück – die Vergänglichkeit des Eishotels ist sehr poetisch.“

Am nächsten Tag ist es noch etwas kälter geworden. Die Löcher im Dach sind zugefroren. Jetzt wird noch mal an Details gefeilt: die Gänge flach geschoben; die Säulen noch mal abgeschmirgelt. Die Lichtdesigner schalten erstmals den aus Hunderten Eisstücken geschnitzten Kronleuchter in der Empfangshalle an. Unzählige Schneekristalle glitzern, werfen ihren Schein in die Korridore.

Noch schnell ein Blick in die Zeremonienhalle, die als Festort für alle Religionen dienen soll: Sie erinnert an einen arktischen Birkenwald. Hinter einer transparenten Eiswand, in die ein Mond geritzt ist, leuchtet ein orangefarbenes Licht. Hier lassen sich Paare trauen oder ihre Kinder taufen. Ein kalter Ort, der jedes Herz erwärmt.

Auch bei Giovanna, Luca und Linda herrscht Partystimmung. Mit einem eiskalten Glas Sekt werden sie heute Abend anstoßen. Und anschließend in Thermoschlafsäcke schlüpfen – denn die erste Nacht im Eishotel gehört jenen, die es gebaut haben, so will es die Tradition. Bekommt man in der Kälte überhaupt ein Auge zu? „O ja“, sagt Giovanna, „nach vier Wochen Plackerei können wir endlich mal ausruhen. Das wird der beste Schlaf meines Lebens.“

Die Suite „Guardian“ von Linda Vagnelind: Eine Skulptur aus Tigerkopf mit T Rex Zähnen und knienden Frauenfiguren bewacht das Bett.
Die Suite „Guardian“ von Linda Vagnelind: Skulptur aus Tigerkopf mit T-Rex-Zähnen und knienden Frauenfiguren.

Text: Reinhard Keck I Fotos: Joachim Lundgren